Mittwoch, 31. Dezember 2008

Impressionen eines letzten Tages...



Alles beginnt mit der Sehnsucht. Nelly Sachs
Möge es die Sehnsucht sein nach...
dem ICH, dem DU, dem WIR
der STILLE und dem KLANG
dem TRAUM und dem LEBEN
dem MOND und der SONNE
dem sicheren HAFEN und dem offenen MEER
und wieder zurück
und wieder zurück.
Und nach LIEBE und
LIEBE.
Willkommen, 2009.

May it be the longing after which I, which you, which we, the silence and the sound, the dream and life, the safe harbor and the open sea, and back again. And for love and love. Welcome 2009


art is moving

Mittwoch, 10. Dezember 2008

Mio's Weihnachtswunschgedanken

...ach, Mensch.

Da gibt es doch dieses geflügelte Wort:
"Sag mir, welches Buch du liest/ welchen Film du siehst / welche Musik du hörst usw. usw. ...
und ich sage Dir, wer du bist!".

Ich mach das jetzt mal ganz anders:
Ich sage euch, was auf meiner imaginären (!!) Weihnachtswunschliste steht,
und ihr könnt mir sagen, wie ihr die eine oder andere Sache findet.

Ganz oben steht:
Mensch!
Mensch als Weihnachtswunschgedanke. Da macht es doch gleich peng im Kopf und eine volle Gedankenrakete schickt unendlich viele, verschiedene Gedanken ab in die reale Welt. Sie kommen von Menschen und fliegen zu Menschen, die Teil meines Lebens sind, waren.
Schön, dass es so viele sind.
Traurig, dass einige nicht mehr da sind. Körperlich. Im Herzen immer.

Hm, und somit sind meine ersten Weihnachtswunschgedanken die Gedanken und guten Wünsche für die Familie, Freunde und Nachbarn und lieben Menschen,
die meinen Weg kreuzen.

Aber ich gebe zu, auch in mir wohnt das ewige Kind mit einer ganz eigenen egoistischen
Weihnachtswunschliste. Also dann: macht es Euch mit Glögg und Rentier Rudolph bequem,
los gehts (die Reihenfolge bestimmt kein Arzt, kein Apotheker, kein tieferer Sinn und nicht mal die Logik):


  • die neueste Scheibe von Tracy Chapmann...
  • irgend eine Scheibe vom norwegischen wahnsinnschellisten Truls Mjørk und der wahnsinnssängerin Marie Boine und der wahnsinnsgeigerin Susann Lundeng
  • eine Zeitung, ein Journal, die mir einen Artikel zur nmfu 2009 abkauft
  • einen Norwegischlehrer / eine Norwegischlehrerin
  • ein paar Stiefel, die toll aussehen UND in denen ich nie mehr kalte Füße bekomme
  • einen schottischen Wolfshund
  • einen Balkon (südseite wär der Traum!)
  • einen Gutschein für den Druck und die Zeit zur Erarbeitung einer eigenen Ausstellung
  • einen Automechaniker, der mein 11 Jahre junges Mobil mal generalüberholt (ohne dass ich danach das Gefühl hab, die Werkstatt kaufen zu müssen)
  • eine Sitzheizung (geniale Erfindung!!!)
  • drei Freiflüge (Billigflug ist zwar nicht fair, aber reicht): nach Schottland, nach Italien und nach Norwegen
  • eine neue Reisetasche mit Rollen
  • einen Fotografier-Lehrer / -Lehrerin
  • Kerzen ...(ich bin diesbezüglich grad völlig abgebrannt:-)
  • ein Paar Sticks (schwarze von Vic Firth wären toll)...und ein Fell + Spannreifen + Ständer + noch zwei Fälle + noch zwei Spannreifen + noch zwei Ständer + und ein Pedal + ein großes Fell + große Spannreifen + Ständer + 1 Becken oben + ein Becken unten + ....wenn alles zusammengebaut wird, nennt man das wohl Schlagzeug :-))
  • einen Laptop, der so leise ist, das mich beim telefonieren keiner mehr fragt,wo ich denn gerade Auto fahre
  • ein Tischchen, mit dem ich im Bett am Laptop arbeiten kann, ohne dass mir darunter die Bettdecke anbrennt
  • eine Webcam, damit ich meine einzige und Liebelingsnichte erkenne, wenn sie näxtes Jahr aus Scotland zurück kommt
  • ein Dauerabo für: spanischen Schinken, italienische Trinkschokolade, norwegisches Eis, Yoghurt und Käse, englisches Frühstück, geröstete (französische) Maronen, Mühlhäuser Pflaumenmus, Freiburger Wein, Schottischen Whisky...
  • eine Nacht im Buchladen und der Zusicherung, am nächsten Tag ausschlafen zu können
  • für jeden lieben Menschen einen Sonnenscheinhimmel, wenn er Geburtstag hat
  • ein paar gute Kopfhörer für mich und zum Wohl meiner Nachbarn
  • einen eigenen Überraschungsgeburtstag mit gaaaaaaaaaaaanz vielen lieben Menschen
  • einen allerersten Segeltörn ...
  • einen Sonnenstrahl, einen Windhauch und um die Füße eine Welle aus dem Meer

...hier mach ich mal einfach 'ne Pause, wolln es ja nicht übertreiben :-)

Was von dieser Wunschliste ins reale Leben gefunden hat, wird beim öffnen des ersten Adventstürchen 2009 hier zu lesen sein. Schön neugierig bleiben.




Dienstag, 11. November 2008

Mio...Women in Jazz 2008

Wenn es einmal Zeit wird, den Konzertsessel in der irdischen Welt mit dem Platz auf einer Wolke zu tauschen, dann soll es bitte im Schlussakkord eines Konzertes geschehen, wie ich es gestern Abend erleben durfte...

Women in Jazz, Halle, an einem Samstagabend im Februar 2008,
Opernhaus, erste Reihe(!)

Menschen strömen in das hell erleuchtete Haus. Das kleine Foyer ist überfüllt: mit Menschen, die noch nach einer Karte anstehen; mit ankommenden Menschen, mit Infoständen und weißen Tischen, hinter denen gut aussehende junge Männer mit leerem Blick volle Weingläser und Brezeln verkaufen. Nichts gegen die Brezeln, eine von Ihnen wird in der ersten Pause mein Abendbrot.

Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, kommen an, gehen schauend, beobachtend durch die Etagen. Stehen, möglichst mit dem Rücken zur Wand, halten die Gläser, die Gläser halten sie. Leblose, traurige Paare gehen nebeneinander die Treppe hinunter. Liebevolle, lebendige Berührungen huschen von einer Haut auf die Andere. Menschen. Reden mit ihrem Gegenüber, während der Blick abwesend durch den Raum fliegt. Sehen und gesehen werden. Das alte Spiel –
bewusst von jenen gespielt, die gesehen werden wollen und bewusst hinsehen;
bewusst von jenen gespielt, die nicht gesehen werden wollen und doch hinsehen;
bewusst von jenen gespielt, die nicht gesehen werden wollen und wegsehen;
unbewusst mit jenen gespielt, die nicht einmal sehen ... nur sind. Da sind.

Zurückhaltende Spannung liegt über allem.
Erwartung. Hundertseelenfach verschieden.

Opernhaus. Erste Reihe ... unglaublich für jemanden, dessen Preisklasse bei Konzertkarten im hinteren (bei Häusern mit Rang: im oberen) Segment liegt.
Die Nähe, diese unmittelbare, uneingeschränkte Nähe des Blickes zur Bühne macht fast ehrfürchtig. Und schlägt die Augen in den Bann von Schlagzeug, Baß, Flügel und dem umgebenden Schwarz des Bühnenraumes. Später werden es die Körper, Gesichter, Augen, Münder, Hände jener sein – die ihre Musik leben, zelebrieren, schenken.

Der Kopf weiß es, das Herz hofft es, die Seele spürt sie schon:
die Freude und den Schmerz, den die Musik dieser Nacht zurücklassen wird
in jedem, der sie zu hören und zu fühlen und zu verstehen vermag.

Witchkraft. Jazz mit 1/3 jungem, natürlichen Leben aus Kasachstan (Piano), mit 1/3 purem authentischem Power-Leben aus Brasilien (Schlagzeug) und 1/3 erfahrenem, selbstbewusstem Leben aus Deutschland (Baß).
Von Links erhebt sich unvoreingenommene, lebensbejahende Virtuosität aus dem Flügel. Wundervoll bescheiden und natürlich gespielt. Jazz trifft Klassik. Leben trifft Musik. Einfach so. Lächelnd.
Von rechst springt praller, unkonventionell gespielter Rhythmus aus Trommeln, Baßdrum, Becken und einem selbst gemachten SicherheitsSchlüsselchaim auf die Bühne. Nicht chaotisch, nicht überheblich ... Nur unendlich lebendig, mitreißend. Immer genug für den inneren Frieden und ein Lächeln hinüber zum Piano. Gesang und Spiel auf dem Schlagzeug lassen spüren, dass dieses Leben da vor n seinen eigenen Rhythmus auf dieser Welt gefunden hat. Lebendig, brasilianisch, fröhlich.
Zwischen allem erdet der Baß. Virtuos gespielt. Der Teppich, auf dem sich die Läufe und Anschläge des Pianos mit den treibenden und haltenden Rhythmen des Schlagzeugs zum Tanz einfinden. Immer so viel von sich gebend, das Platz für den anderen bleibt. Immer so lang führend in diesem gemeinsamen Tanz, bis die Freude wächst, den anderen zu hören und ihn zu genießen.

Was nach der „Brezelpause“ geschieht, ... ja, das nimmt mir mit dem ersten gesungenen Akkord den Atem. Ich erlebe den musikalisch schmerzhaftesten Schock meines Lebens... nur ein einziger Mensch im Saal hätte noch ahnen können, wie sehr und warum es so geschieht.

Ich hatte ja keine Ahnung, wer da auf die Bühne kommt – barfuss, in gold-samtigen langen Kleid, das die tanzenden, sich in der Musik windenden Bewegungen des kleinen Körpers noch intensiver erscheinen lässt. Mit wilden, offenen Haaren, einem weichen Gesicht mit fast kindlichen Zügen und trotzdem - oder gerade deswegen – einer selbstbewussten, einnehmenden Ausstrahlung, die so blank auf die Bühne tritt wie die nackten Füße:
Kristin Asbjørnsen.
Wäre es kein Klischee, so würde man nach einer Begegnung mit ihrer Musik nie wieder am Zauber, der Magie und der Kraft der Trollfrauen zweifeln. Nie wieder!!
Ich erstarre in meinem Konzertsessel in der ersten Reihe. Nein, ich hatte keine Ahnung, von dem, was mir da rau, sanft, ursprünglich, pur und authentisch mit sich selbst in die Seele schlug. Alles potentiert sich:
diese raue Stimme, die trotzdem weich und weit fliegen kann, gewinnt an Dimension, als sie wundervolle, eigene Gospelvariationen zum Gegenstand ihres Klanges macht.
Eigen, so eigen zelebriert diese kleine, kraftvolle Frau ihren Dialog mit IHM in diese Nacht. Es ist ein afrikanischer, ein nordischer, ein unendlich irdischer – ein menschlicher Gott, der mit ihrer Stimme in die Seele jener fällt, die bereit sind, zu hören, zu fühlen, sich zu ergeben ... dem, was Musik mit einer Seele geschehen lassen kann – wenn sie so wundervoll zum Dialog eingeladen wird.
Bis, ... ja bis in mir ein Halleluhja stirbt ...
still, unendlich leise, unbemerkt, schmerzvoll.
Ohne Raum. Ohne Wiederkehr.

„on that deadful judgment day,
I’ll take wings and fly away,
for to her the trumpet sound
in the morning”

...möge dieser Tag noch weit, weit weg sein,
aber wenn er kommt, dann möchte ich mich an diesen starken Song und diesen Augenblick – da an diesem Samstagabend in der ersten Reihe in Halle – erinnern.
Und möge der Engel des Vergessens Erbarmen mit mir haben, möge ich bis dahin vergessen dürfen ... was diese Musik so wundevoll und gleichzeitig so schmerzvoll für mich macht.

Kulturtipp:
Kristin Asbjoernsen, CD „Way faring stranger – a spiritual songbook“



Keine Ahnung, wie sich „Afrika“ anfühlt.
Keine Ahnung, wie „Afrika“ klingt.
Keine Ahnung, wie „Afrika“ aussieht.
Aber seit diesem Abend eine Ahnung, wie ursprünglich und identisch ein Mensch mit seiner, dieser Welt leben kann. Besonders, wenn die Musik zur Sprache wird.
Eine Frau singt ihre Kultur, ist dabei immer präsent und bei ihren Musikern, da, in diesem Moment ... und ist doch auch weit weg, weit, weit weg...
Simhiwe Dana, Südafrika, mit ihr ein Chor, dessen Sängerin sich mit hochschwangerem Bauch nach dem zweiten Song auf einen bereitgestellten Stuhl fallen lässt. Wohlgemerkt ihren Körper, ihr ungeborenes Kind – nicht ihre Stimme.
Der Schlagzeuger ist so kraftvoll wie er jung ist. Dem Mann am Keybord möchte man sein Leben erzählen. Der Mann am Bass ist so regungslos wie alle Bassmänner. Der Klang der Kongas legt sich so sacht unter die Musik wie die Hände einer Mutter unter ihr Baby. Ich denke an das Baby im Bauch der Sängerin, ich beneide es, ich wünsche ihm Leben – ein unendlich intensives, Wert-volles, musikalisches Leben ...
zwischen der alten und neuen Welt Afrikas.

Schlussakkord. Keine Worte mehr.



Mio...Geschichten




Hannahs Geschichte ...

Aufgeschrieben hat sie Marion Rohland.
Die Bilder zeichnete Anette Karst.



Eigentlich gehört diese Geschichte Hannah.
Ich sehe noch ihr klares Gesicht, dem mit einer leichten Neigung des Kopfes die Feststellung entsprang, das die Buchstaben ja im Wasser landen, wenn das Buch in die Wanne fällt.

Ich hatte ihrem Vater als Geschenk ein wasserfestes Buch gekauft, ein unterhaltsamer Spaß für die Badewanne. Natürlich machte Hannah gleich die Probe aufs Exempel und verschwand im Bad. Nach einer Weile tauchte sie wieder auf und hielt das Buch in der Hand. Es war zwar nass, doch wasserfest. Aber – Hannah sah uns Erwachsene mit ihren „hab ich doch gesagt“ Augen an und sagte trockener als es das Buch war:
„Die Buchstaben sind weg!“




Zuerst hielten wir das wasserfeste Verkaufsversprechen mal wieder für einen großen Schwindel. Klar doch, wasserfest – dabei löste sich gleich beim ersten Wannengang alles in Wohlgefallen auf. Bis Hannah uns erfolgreich nötigte, doch mit ins Bad zu kommen. Die Buchstaben lägen alle in der Wanne, behauptete sie. Hm, Kinder und ihre Phantasie. Ja, ja, kleine Hannah, das ist ja lustig. Aber Buchstaben können nicht schwimmen, haha. Es half nichts. Wenn Hannah etwas wirklich grandios beherrschte, so war es die Ausdauer darin, ihren eigenen Willen zu dem des Anderen zu machen. Wir gingen ins Bad.
Beim Aufprall schupste ich Hannahs Vater fast in die mit Wasser gefüllte Wanne, so abrupt blieb er vor mir stehen. Auf Hannahs Gesicht machte sich noch einmal ihr triumphierendes „hab ich doch gesagt“ Lächeln breit. Ich setzte mich auf die Klobrille, sah erst Hannah, dann ihren Vater und wir beide dann den Inhalt der Wanne an.
Buchstaben. Irre viele Buchstaben.

In unsere erwachsene Fassungslosigkeit hauchte Hannah
„Toll, was?!“
und trat an den Wannenrand. Als würde sie sich einer Kilo - schweren Wasserbombe nähern, sprang ihr Vater, der seine Bewegungsfähigkeit als erster von uns beiden wieder gefunden hatte, auf sie zu und zerrte sie vom Wannenrand weg. Hannah sah ihn ruhig an:
„Papa, das sind doch nur Buchstaben“.
Sie befreite sich aus einer Umklammerung, bei der nicht klar war, wer sich an wem festhielt. Langsam trat sie wieder auf die Badewanne zu.
Ich hatte das ganze Schauspiel bis dahin von meinem Klodeckel aus beobachtet. Nun rutschte ich von selbigem und kniete mich vor die Wanne. So hatte ich fast gleiche Augenhöhe mit Hannah, was mir ein sehr solidarisches – und irgendwie beruhigendes - Gefühl vermittelte. Das Kind Hannah war die Entdeckerin, die Anführerin unserer Expedition. Komisch, das Erwachsene diesen Rollentausch fast nie zugeben können, besonders nicht, wenn sie nach ihrem Abenteuer der Welt davon erzählen.

Hannahs Vater stand am Ende der Badewanne, ich hockte kniend an der Seite davor. Hannah stand, die Hände am Wannenrand aufgestützt, neugierig über die Wanne gebeugt und sah den Buchstaben zu. Wir sprachen kein Wort.





Mitten in diese Stille fiel das leichte, elektronische dingdong der Wohnungsklingel. Für Hannahs Vater muss es wohl das Nebelhorn eines Hochseefrachters direkt neben seiner Ohrmuschel gewesen sein, so sehr riss er erschrocken die Arme hoch. Dabei knallte er an den Waschbeckenrand und brach sich fast noch den kleinen Finger. Unverständliche Dinge fluchend hastete er sich die Hand reibend so schnell zur Wohnungstür, als hätte er Angst, das Nebelhorn noch einmal ertragen zu müssen. Nach kurzer Zeit schob Hannahs Vater seinen Freund Markus ins Bad. Nun starrten sechs ratlose und zwei fröhlich-neugierige Augenpaare in eine Badewanne: voller Wasser und voller Buchstaben.

„Das geht doch gar nicht.“

analysierte Markus in die Stille hinein.
„Das ist total verrückt!“
ergänzte ihn Hannahs Vater.
„Papa schau mal, die können sogar richtig lebendig schwimmen. Da, das H ist ganz schnell im Wasser.“
Hannah wurde immer aufgeregter. Sie war in das Geschehen in der Wanne völlig eingetaucht, während wir Erwachsenen aus größtmöglicher Distanz die ganze Sache zu begreifen versuchten. Ich bemühte mich, Hannas schwimmendes H zu finden. Und tatsächlich, da war ein großes H, das sich wie ein Katamaran durch die anderen Buchstaben schob. Immer, wenn es sich dem Wannenrand näherte, wurde es langsamer, blieb kurz neben einem anderen Buchstaben stehen und fing dann wieder an, sich in Bewegung zu setzen. Um am anderen Ende der Wanne wieder einen anderen Buchstaben zu treffen.
„Was ist hier eigentlich los?“
Markus wollte nun endlich eine Erklärung für das Schauspiel und sah Hannahs Vater fordernd an. Dieser erzählte schnell vom wasserfesten Buch, Hannahs neugieriger Probe aufs Exempel und deren Ergebnis, vor dem wir nun standen.
„Lasst doch einfach das Wasser ab“.
Kaum hatte Markus diesen Gedanken eher laut gedacht als ernst gemeint, fuhr Hannah vom Wannenrand hoch, stemmte ihre kleinen Arme fest in die Seiten und raunzte Markus an:
„Und die Buchstaben? Die würden ja alle ertrinken!“.
Na ja, ertrinken nicht gerade, schließlich können sie ja scheinbar schwimmen, dachte ich. Aber gut ginge es ihnen in so einem Kanalrohr sicher nicht.
Halt, Moment mal, was mache ich denn da. Ich knie in einem ganz normalen Bad, in einer ganz normalen Wohnung und mache mir Sorgen um ein paar schwimmende, lebendige Buchstaben in einem Kanalrohr?!
„Sind wir jetzt alle verrückt geworden“?
Fragend sah ich Markus an.
„Ha, guckt mal da.“ tönte Hannahs Vater begeistert.
“Hannah hat recht, das H bewegt sich. Und wie! Das ist ja verrückt. Und hier, seht ihr das? Immer wenn das H bei einem Buchstaben war, bewegt der sich solang durch das Wasser, bis es ein Wort ergibt. Da“, Hannahs Vater gerät immer mehr ins Verzücken,
„das wird das Wort“ – er stutzt kurz, dreht seinen Kopf mit dem beweglichen H mit. „Wartet... ahhh, ja“ Langsam buchstabiert er:
„see - hhh - en, ja , es heißt ‚sehen’. Hannah, siehst Du es?“
Inzwischen war Hannahs Vater auch kniend neben seiner Tochter am Wannenrand gelandet und beide begannen sich zu gebären wie beim Blick in ein Meerwasseraquarium, in dem immer wieder neue exotische Fische auftauchen und verschwinden. Markus schien noch der Einzige unter uns zu sein, der dem Treiben in der Badewanne nicht erlag.
„Jetzt fehlt nur noch, das die Buchstaben anfangen zu singen“, frozzelte er. Hannah sah vom Wannenrand zu ihm auf, schob ihm ihre großen runden Augen mit gerunzelter Stirn und einem abstrafenden „Hmpf“ entgegen und widmete sich wieder dem Treiben in der Badewanne.
Markus rollte kurz die Augen, zog dabei die Augenbrauen nach oben und schüttelte den Kopf. Er drehte sich zur Tür, als sein Blick auf das wasserfeste Buch fiel. Hannah hatte es neben der Wanne fallen lassen. Er hob es auf und betrachte den Umschlag, auf dem eine gelbe Quietscheente abgebildet war. Er schlug das Buch auf - und tatsächlich: Dem Buch fehlten die Worte. Es stand nichts darin geschrieben. Die Wörter, Punkte, Kommas, Frage- und Ausrufezeichen, Bindestriche ... alles war weg. Jetzt sah das Buch aus wie ein Bilderbuch für Kinder, die noch nicht lesen können. Manche Seiten waren sogar völlig leer, hatten nicht mal ein Bild. Weiter das Buch betrachtend ging Markus aus dem Bad. Kurz vor der Tür blieb er noch einmal stehen.
‚Das ist ja seltsam’, dachte er, ,alle Wörter sind weg, nur eins steht noch da’.
Es war das Wort :

SEHEN.