Dienstag, 11. November 2008

Mio...Geschichten




Hannahs Geschichte ...

Aufgeschrieben hat sie Marion Rohland.
Die Bilder zeichnete Anette Karst.



Eigentlich gehört diese Geschichte Hannah.
Ich sehe noch ihr klares Gesicht, dem mit einer leichten Neigung des Kopfes die Feststellung entsprang, das die Buchstaben ja im Wasser landen, wenn das Buch in die Wanne fällt.

Ich hatte ihrem Vater als Geschenk ein wasserfestes Buch gekauft, ein unterhaltsamer Spaß für die Badewanne. Natürlich machte Hannah gleich die Probe aufs Exempel und verschwand im Bad. Nach einer Weile tauchte sie wieder auf und hielt das Buch in der Hand. Es war zwar nass, doch wasserfest. Aber – Hannah sah uns Erwachsene mit ihren „hab ich doch gesagt“ Augen an und sagte trockener als es das Buch war:
„Die Buchstaben sind weg!“




Zuerst hielten wir das wasserfeste Verkaufsversprechen mal wieder für einen großen Schwindel. Klar doch, wasserfest – dabei löste sich gleich beim ersten Wannengang alles in Wohlgefallen auf. Bis Hannah uns erfolgreich nötigte, doch mit ins Bad zu kommen. Die Buchstaben lägen alle in der Wanne, behauptete sie. Hm, Kinder und ihre Phantasie. Ja, ja, kleine Hannah, das ist ja lustig. Aber Buchstaben können nicht schwimmen, haha. Es half nichts. Wenn Hannah etwas wirklich grandios beherrschte, so war es die Ausdauer darin, ihren eigenen Willen zu dem des Anderen zu machen. Wir gingen ins Bad.
Beim Aufprall schupste ich Hannahs Vater fast in die mit Wasser gefüllte Wanne, so abrupt blieb er vor mir stehen. Auf Hannahs Gesicht machte sich noch einmal ihr triumphierendes „hab ich doch gesagt“ Lächeln breit. Ich setzte mich auf die Klobrille, sah erst Hannah, dann ihren Vater und wir beide dann den Inhalt der Wanne an.
Buchstaben. Irre viele Buchstaben.

In unsere erwachsene Fassungslosigkeit hauchte Hannah
„Toll, was?!“
und trat an den Wannenrand. Als würde sie sich einer Kilo - schweren Wasserbombe nähern, sprang ihr Vater, der seine Bewegungsfähigkeit als erster von uns beiden wieder gefunden hatte, auf sie zu und zerrte sie vom Wannenrand weg. Hannah sah ihn ruhig an:
„Papa, das sind doch nur Buchstaben“.
Sie befreite sich aus einer Umklammerung, bei der nicht klar war, wer sich an wem festhielt. Langsam trat sie wieder auf die Badewanne zu.
Ich hatte das ganze Schauspiel bis dahin von meinem Klodeckel aus beobachtet. Nun rutschte ich von selbigem und kniete mich vor die Wanne. So hatte ich fast gleiche Augenhöhe mit Hannah, was mir ein sehr solidarisches – und irgendwie beruhigendes - Gefühl vermittelte. Das Kind Hannah war die Entdeckerin, die Anführerin unserer Expedition. Komisch, das Erwachsene diesen Rollentausch fast nie zugeben können, besonders nicht, wenn sie nach ihrem Abenteuer der Welt davon erzählen.

Hannahs Vater stand am Ende der Badewanne, ich hockte kniend an der Seite davor. Hannah stand, die Hände am Wannenrand aufgestützt, neugierig über die Wanne gebeugt und sah den Buchstaben zu. Wir sprachen kein Wort.





Mitten in diese Stille fiel das leichte, elektronische dingdong der Wohnungsklingel. Für Hannahs Vater muss es wohl das Nebelhorn eines Hochseefrachters direkt neben seiner Ohrmuschel gewesen sein, so sehr riss er erschrocken die Arme hoch. Dabei knallte er an den Waschbeckenrand und brach sich fast noch den kleinen Finger. Unverständliche Dinge fluchend hastete er sich die Hand reibend so schnell zur Wohnungstür, als hätte er Angst, das Nebelhorn noch einmal ertragen zu müssen. Nach kurzer Zeit schob Hannahs Vater seinen Freund Markus ins Bad. Nun starrten sechs ratlose und zwei fröhlich-neugierige Augenpaare in eine Badewanne: voller Wasser und voller Buchstaben.

„Das geht doch gar nicht.“

analysierte Markus in die Stille hinein.
„Das ist total verrückt!“
ergänzte ihn Hannahs Vater.
„Papa schau mal, die können sogar richtig lebendig schwimmen. Da, das H ist ganz schnell im Wasser.“
Hannah wurde immer aufgeregter. Sie war in das Geschehen in der Wanne völlig eingetaucht, während wir Erwachsenen aus größtmöglicher Distanz die ganze Sache zu begreifen versuchten. Ich bemühte mich, Hannas schwimmendes H zu finden. Und tatsächlich, da war ein großes H, das sich wie ein Katamaran durch die anderen Buchstaben schob. Immer, wenn es sich dem Wannenrand näherte, wurde es langsamer, blieb kurz neben einem anderen Buchstaben stehen und fing dann wieder an, sich in Bewegung zu setzen. Um am anderen Ende der Wanne wieder einen anderen Buchstaben zu treffen.
„Was ist hier eigentlich los?“
Markus wollte nun endlich eine Erklärung für das Schauspiel und sah Hannahs Vater fordernd an. Dieser erzählte schnell vom wasserfesten Buch, Hannahs neugieriger Probe aufs Exempel und deren Ergebnis, vor dem wir nun standen.
„Lasst doch einfach das Wasser ab“.
Kaum hatte Markus diesen Gedanken eher laut gedacht als ernst gemeint, fuhr Hannah vom Wannenrand hoch, stemmte ihre kleinen Arme fest in die Seiten und raunzte Markus an:
„Und die Buchstaben? Die würden ja alle ertrinken!“.
Na ja, ertrinken nicht gerade, schließlich können sie ja scheinbar schwimmen, dachte ich. Aber gut ginge es ihnen in so einem Kanalrohr sicher nicht.
Halt, Moment mal, was mache ich denn da. Ich knie in einem ganz normalen Bad, in einer ganz normalen Wohnung und mache mir Sorgen um ein paar schwimmende, lebendige Buchstaben in einem Kanalrohr?!
„Sind wir jetzt alle verrückt geworden“?
Fragend sah ich Markus an.
„Ha, guckt mal da.“ tönte Hannahs Vater begeistert.
“Hannah hat recht, das H bewegt sich. Und wie! Das ist ja verrückt. Und hier, seht ihr das? Immer wenn das H bei einem Buchstaben war, bewegt der sich solang durch das Wasser, bis es ein Wort ergibt. Da“, Hannahs Vater gerät immer mehr ins Verzücken,
„das wird das Wort“ – er stutzt kurz, dreht seinen Kopf mit dem beweglichen H mit. „Wartet... ahhh, ja“ Langsam buchstabiert er:
„see - hhh - en, ja , es heißt ‚sehen’. Hannah, siehst Du es?“
Inzwischen war Hannahs Vater auch kniend neben seiner Tochter am Wannenrand gelandet und beide begannen sich zu gebären wie beim Blick in ein Meerwasseraquarium, in dem immer wieder neue exotische Fische auftauchen und verschwinden. Markus schien noch der Einzige unter uns zu sein, der dem Treiben in der Badewanne nicht erlag.
„Jetzt fehlt nur noch, das die Buchstaben anfangen zu singen“, frozzelte er. Hannah sah vom Wannenrand zu ihm auf, schob ihm ihre großen runden Augen mit gerunzelter Stirn und einem abstrafenden „Hmpf“ entgegen und widmete sich wieder dem Treiben in der Badewanne.
Markus rollte kurz die Augen, zog dabei die Augenbrauen nach oben und schüttelte den Kopf. Er drehte sich zur Tür, als sein Blick auf das wasserfeste Buch fiel. Hannah hatte es neben der Wanne fallen lassen. Er hob es auf und betrachte den Umschlag, auf dem eine gelbe Quietscheente abgebildet war. Er schlug das Buch auf - und tatsächlich: Dem Buch fehlten die Worte. Es stand nichts darin geschrieben. Die Wörter, Punkte, Kommas, Frage- und Ausrufezeichen, Bindestriche ... alles war weg. Jetzt sah das Buch aus wie ein Bilderbuch für Kinder, die noch nicht lesen können. Manche Seiten waren sogar völlig leer, hatten nicht mal ein Bild. Weiter das Buch betrachtend ging Markus aus dem Bad. Kurz vor der Tür blieb er noch einmal stehen.
‚Das ist ja seltsam’, dachte er, ,alle Wörter sind weg, nur eins steht noch da’.
Es war das Wort :

SEHEN.

Keine Kommentare: