Dienstag, 11. November 2008

Mio...Women in Jazz 2008

Wenn es einmal Zeit wird, den Konzertsessel in der irdischen Welt mit dem Platz auf einer Wolke zu tauschen, dann soll es bitte im Schlussakkord eines Konzertes geschehen, wie ich es gestern Abend erleben durfte...

Women in Jazz, Halle, an einem Samstagabend im Februar 2008,
Opernhaus, erste Reihe(!)

Menschen strömen in das hell erleuchtete Haus. Das kleine Foyer ist überfüllt: mit Menschen, die noch nach einer Karte anstehen; mit ankommenden Menschen, mit Infoständen und weißen Tischen, hinter denen gut aussehende junge Männer mit leerem Blick volle Weingläser und Brezeln verkaufen. Nichts gegen die Brezeln, eine von Ihnen wird in der ersten Pause mein Abendbrot.

Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, kommen an, gehen schauend, beobachtend durch die Etagen. Stehen, möglichst mit dem Rücken zur Wand, halten die Gläser, die Gläser halten sie. Leblose, traurige Paare gehen nebeneinander die Treppe hinunter. Liebevolle, lebendige Berührungen huschen von einer Haut auf die Andere. Menschen. Reden mit ihrem Gegenüber, während der Blick abwesend durch den Raum fliegt. Sehen und gesehen werden. Das alte Spiel –
bewusst von jenen gespielt, die gesehen werden wollen und bewusst hinsehen;
bewusst von jenen gespielt, die nicht gesehen werden wollen und doch hinsehen;
bewusst von jenen gespielt, die nicht gesehen werden wollen und wegsehen;
unbewusst mit jenen gespielt, die nicht einmal sehen ... nur sind. Da sind.

Zurückhaltende Spannung liegt über allem.
Erwartung. Hundertseelenfach verschieden.

Opernhaus. Erste Reihe ... unglaublich für jemanden, dessen Preisklasse bei Konzertkarten im hinteren (bei Häusern mit Rang: im oberen) Segment liegt.
Die Nähe, diese unmittelbare, uneingeschränkte Nähe des Blickes zur Bühne macht fast ehrfürchtig. Und schlägt die Augen in den Bann von Schlagzeug, Baß, Flügel und dem umgebenden Schwarz des Bühnenraumes. Später werden es die Körper, Gesichter, Augen, Münder, Hände jener sein – die ihre Musik leben, zelebrieren, schenken.

Der Kopf weiß es, das Herz hofft es, die Seele spürt sie schon:
die Freude und den Schmerz, den die Musik dieser Nacht zurücklassen wird
in jedem, der sie zu hören und zu fühlen und zu verstehen vermag.

Witchkraft. Jazz mit 1/3 jungem, natürlichen Leben aus Kasachstan (Piano), mit 1/3 purem authentischem Power-Leben aus Brasilien (Schlagzeug) und 1/3 erfahrenem, selbstbewusstem Leben aus Deutschland (Baß).
Von Links erhebt sich unvoreingenommene, lebensbejahende Virtuosität aus dem Flügel. Wundervoll bescheiden und natürlich gespielt. Jazz trifft Klassik. Leben trifft Musik. Einfach so. Lächelnd.
Von rechst springt praller, unkonventionell gespielter Rhythmus aus Trommeln, Baßdrum, Becken und einem selbst gemachten SicherheitsSchlüsselchaim auf die Bühne. Nicht chaotisch, nicht überheblich ... Nur unendlich lebendig, mitreißend. Immer genug für den inneren Frieden und ein Lächeln hinüber zum Piano. Gesang und Spiel auf dem Schlagzeug lassen spüren, dass dieses Leben da vor n seinen eigenen Rhythmus auf dieser Welt gefunden hat. Lebendig, brasilianisch, fröhlich.
Zwischen allem erdet der Baß. Virtuos gespielt. Der Teppich, auf dem sich die Läufe und Anschläge des Pianos mit den treibenden und haltenden Rhythmen des Schlagzeugs zum Tanz einfinden. Immer so viel von sich gebend, das Platz für den anderen bleibt. Immer so lang führend in diesem gemeinsamen Tanz, bis die Freude wächst, den anderen zu hören und ihn zu genießen.

Was nach der „Brezelpause“ geschieht, ... ja, das nimmt mir mit dem ersten gesungenen Akkord den Atem. Ich erlebe den musikalisch schmerzhaftesten Schock meines Lebens... nur ein einziger Mensch im Saal hätte noch ahnen können, wie sehr und warum es so geschieht.

Ich hatte ja keine Ahnung, wer da auf die Bühne kommt – barfuss, in gold-samtigen langen Kleid, das die tanzenden, sich in der Musik windenden Bewegungen des kleinen Körpers noch intensiver erscheinen lässt. Mit wilden, offenen Haaren, einem weichen Gesicht mit fast kindlichen Zügen und trotzdem - oder gerade deswegen – einer selbstbewussten, einnehmenden Ausstrahlung, die so blank auf die Bühne tritt wie die nackten Füße:
Kristin Asbjørnsen.
Wäre es kein Klischee, so würde man nach einer Begegnung mit ihrer Musik nie wieder am Zauber, der Magie und der Kraft der Trollfrauen zweifeln. Nie wieder!!
Ich erstarre in meinem Konzertsessel in der ersten Reihe. Nein, ich hatte keine Ahnung, von dem, was mir da rau, sanft, ursprünglich, pur und authentisch mit sich selbst in die Seele schlug. Alles potentiert sich:
diese raue Stimme, die trotzdem weich und weit fliegen kann, gewinnt an Dimension, als sie wundervolle, eigene Gospelvariationen zum Gegenstand ihres Klanges macht.
Eigen, so eigen zelebriert diese kleine, kraftvolle Frau ihren Dialog mit IHM in diese Nacht. Es ist ein afrikanischer, ein nordischer, ein unendlich irdischer – ein menschlicher Gott, der mit ihrer Stimme in die Seele jener fällt, die bereit sind, zu hören, zu fühlen, sich zu ergeben ... dem, was Musik mit einer Seele geschehen lassen kann – wenn sie so wundervoll zum Dialog eingeladen wird.
Bis, ... ja bis in mir ein Halleluhja stirbt ...
still, unendlich leise, unbemerkt, schmerzvoll.
Ohne Raum. Ohne Wiederkehr.

„on that deadful judgment day,
I’ll take wings and fly away,
for to her the trumpet sound
in the morning”

...möge dieser Tag noch weit, weit weg sein,
aber wenn er kommt, dann möchte ich mich an diesen starken Song und diesen Augenblick – da an diesem Samstagabend in der ersten Reihe in Halle – erinnern.
Und möge der Engel des Vergessens Erbarmen mit mir haben, möge ich bis dahin vergessen dürfen ... was diese Musik so wundevoll und gleichzeitig so schmerzvoll für mich macht.

Kulturtipp:
Kristin Asbjoernsen, CD „Way faring stranger – a spiritual songbook“



Keine Ahnung, wie sich „Afrika“ anfühlt.
Keine Ahnung, wie „Afrika“ klingt.
Keine Ahnung, wie „Afrika“ aussieht.
Aber seit diesem Abend eine Ahnung, wie ursprünglich und identisch ein Mensch mit seiner, dieser Welt leben kann. Besonders, wenn die Musik zur Sprache wird.
Eine Frau singt ihre Kultur, ist dabei immer präsent und bei ihren Musikern, da, in diesem Moment ... und ist doch auch weit weg, weit, weit weg...
Simhiwe Dana, Südafrika, mit ihr ein Chor, dessen Sängerin sich mit hochschwangerem Bauch nach dem zweiten Song auf einen bereitgestellten Stuhl fallen lässt. Wohlgemerkt ihren Körper, ihr ungeborenes Kind – nicht ihre Stimme.
Der Schlagzeuger ist so kraftvoll wie er jung ist. Dem Mann am Keybord möchte man sein Leben erzählen. Der Mann am Bass ist so regungslos wie alle Bassmänner. Der Klang der Kongas legt sich so sacht unter die Musik wie die Hände einer Mutter unter ihr Baby. Ich denke an das Baby im Bauch der Sängerin, ich beneide es, ich wünsche ihm Leben – ein unendlich intensives, Wert-volles, musikalisches Leben ...
zwischen der alten und neuen Welt Afrikas.

Schlussakkord. Keine Worte mehr.



1 Kommentar:

Frauke hat gesagt…

Huhu Mio!

ja, da lacht das Bloggerherz ganz vergnügt...hier passiert ja schon ganz viel! Ich würd so gern deine Geschichten lesen, aber mein Rechner hier auf Arbeit verschluckt die ganze schöne blaue Tinte vor dem schwarzen Hintergrund, sodass ich gar nix erkennen kann. Vielleicht würzt du nochmal mit ein bisschen augenfreundlicher Farbe? ;-)

Du hast jetzt deinen ersten offiziellen Leser.

Grüße, die Fran