Freitag, 2. Januar 2009

7 Das Eröffnungskonzert

Mit der zurückhaltenden Unruhe einer Organisatorin bricht Ann Karin schon wenige Minuten nach der Eröffnung wieder mit mir auf, zurück ins Büro. Um von da aus gleich wieder zum Bodø Kulturhus zu fahren. Dort findet das offiziell-feierliche Eröffnungskonzert der Musikfestwoche statt. Im Saal des Kulturhauses in Bodø geht es hoch hinaus, so steil sind die Reihen angeordnet. Wir gehen als letzte in den Saal, suchen uns einen Platz in der dritten Reihe – von vorn! Die oberen Reihen sind dicht besetzt, im Gegensatz zur deutschen Theatertradition, möglichst einen Platz in den ersten Reihen zu ergattern. Als ich mich setze, weiss ich auch, warum die vorderen Reihen noch frei sind: Ich kann nicht weiter als bis zum ersten Notenständer schauen. Die ersten Reihen liegen unter dem Bühnenniveau. Macht aber nix, der Klang ist wichtig, der Blick in die Gesichter der Künstler ist noch möglich. Die Bühne ist vorbereitet für ein kleines Orchester, inklusive Harfe und Flügel, Schreibmaschine (!) und Sägebock (!). Etwa in dieser Spannbreite bewegt sich die Musikalität des Eröffnungskonzertes. Ja, in dieser Spannbreite bewegt sich das gesamte Programm der Musikkfestuke. Es ist das Anliegen der Organisatoren, neben dem eigentlichen klassischen Ansatz des Festivals auch die Wahrnehmung anderer Musikstile zu schärfen. So bietet diese Woche eine beeindruckende Zahl professioneller Konzerte von Klassik über Jazz über Chanson über Folk bis Moderne. Sehr viel Moderne sogar, wie schon das Eröffnungskonzert zeigen sollte.
Die Lichter verdunkeln sich, die Türen werden geschlossen. Das Konzert beginnt klassisch. Den Ruck hin zu ungewohnten Klängen gibt aber schon der zweite Programmpunkt.
Sänger Ketil Huugas präsentiert im Zusammenspiel mit Solisten des Bodø Sinfonieorchesters an Cello und Piano eine Komposition des Norwegers Henrik Strindberg. Der im Saal in der zweiten Reihe links Außen sitzt und einen PC bedient, um den gesungenen Text via Leinwand auf Englisch in den Saal zu projezieren. Mann und Frau sollten moderne Musik lieben, am Besten mit ihr groß geworden sein, um sie ohne Vorurteil länger als zwei Uraufführungen lang genießen zu können.
Die zweite Uraufführung des Abends singt deren Komponistin selbst.
Maja Solveig Kjestrup Ratkje gibt zusammen mit dem Bodø Sinfonieorchester, dem Dirigenten der Frankfurter Oper, Roland Böer, mit ihrem Werk und ihren Stimmlippen ein beeindruckendes Zeugnis davon, was der menschliche Kehlkopf zu Leisten in der Lage ist. Ein älteres Ehepaar in der Reihe vor mir scheint sich von dieser Moderne nicht so sehr begeistern lassen zu wollen. Erfolglos versucht die Dame mit den weissen Handschuhen ihren Mann zu überreden, spontan den Konzertbesuch zu beenden. Dieser bewegt nicht einmal den Kopf, bleibt eisern sitzen. Eine köstliche Beobachtung (erfolg- und sprachloser) zwischenmenschlicher Manipulation des Anderen. Der Rest des Publikums scheint dagegen moderne Musik zu lieben, applaudiert begeistert, feiert die Musiker und Komponisten.
Wieder fahren wir nach Konzertende ins Orgbüro im Skagen Hotel zurück. Um zu Fuss – sozusagen über die Strasse – ins Radisson SAS Hotel zum letzten Konzert dieses offiziellen ersten Festivaltages aufzubrechen. Es ist inzwischen etwa 22.30 Uhr.
Dieses Mal im Einsatz als Vakter, als Ordner. Mit der verantwortungsvollen Aufgabe, anwesend zu sein, im Ernstfall die Notausgangstüren aufzureißen und: zu lächeln!
Lächeln, immer Lächeln – es sollte die wichtigste …und liebste…und leichteste Beschäftigung als Frivilligarbeidere für die kommende Woche werden.
Die Komponistin des Festivals, Maja Solveig Kjelstrup Ratkje betritt die Hotellobby des SAS Hotels. In wenigen Minuten beginnt das Konzert der Gruppe ”Poing” mit ihr als Sängerin. Das Konzert ist eine unerwartete Begegnung mit heimatlicher Muttersprache: Lieder von Kurt Weil und Texte von Bertolt Brecht werden interpretiert. Inklusive der DDR Nationalhymne. Ich weiss zu wenig über das Lied, um sagen zu können, ob die Melodie von Weil bewusst eingearbeitet ist oder ob es eine freie Interpretation der Musiker ist. (später erfuhr ich, das es Kurt Weil war, der die Hymne mit hineinkomponierte). Wie auch immer, die plötzliche Begegnung mit eigener Geschichte hier in einem Nachtclub in NordNorwegen verwirrt mich doch etwas. Alles noch getopt von Auszügen aus Beethovens 5.Sinfonie – für Bass, Akkordeon und Saxophon mit und ohne Mundstück. In allem liegt Spielfreude, mit der sich die Musiker durch den Abend sägen. Mit beeindruckendem Sound! Entweder haben die Norweger die besseren Musikanlagen, die besseren Techniker, andere Musiker oder ...
von jedem etwas.
Gegen 2 Uhr geht mein zweiter Tag als Frivilligarbeidere für die Musikkfestuke zu Ende.
Ich bin hundemüde und froh, mich auf meine kostenlose Matratze im norwegischen Mehrfamilienhaus fallen lassen zu können. Noch ein bewundernder Blick in den hellen Nachthimmel, ein ‚takk for i dag’ an das Leben und … ich gleite hinüber ins Traumland.
Um gegen 7 Uhr 30 von einer männlichen und einer weiblichen Stimme geweckt zu werden. Sie kommen die Treppe vom oberen Flur herunter, ich höre jemanden die Badtür neben meinem Zimmer öffnen, norwegische Worte reden, dann wieder die Treppe hinauf gehen. Plötzlich Musik, mal leise, mal laut. Nicht abgesprochen tut die schweizer Fraktion im Nebenzimmer das gleiche wie ich: NICHTS! Wir bewegen uns nicht, warten ab, bis die Stimmen wieder nach oben hin leiser werden und schlafen weiter. Als ich es Priska am Morgen erzähle, meint sie, ich hätte alles nur geträumt. Zum Glück konnte Sophie meine Wahrnehmung bestätigen. Was bzw. wer die Besucher in der Wohnung waren,
sollten wir nie erfahren.
Gegen 9 Uhr bewegen wir uns zum 500 Meter entfernten Frühstück im Skagen Hotel: mit Spiegelei, Rührei, gekochtem Ei, manchmal so eine Art Eierkuchen, gebratenen Würstchen und kleinen Klopsen, Fisch in Senf- oder Tomatensoße,
Brunost = Brauner Käse (besonders lecker mit Preiselbeermarmelade), normaler ”gelber” Käse, Wurst, Gemüse, Müsli, bester Jordbærjoghurt, Marmelade und Obst. Dazu Kaffee (!!!), Wasser, Saft und Milch. Also alles, was Frau für einen guten Start in den Tag braucht.
Das Frühstück im Hotel hat noch einen schönen Nebeneffekt: die Künstler des Festivals tauchen wieder auf, ganz privat, mit und ohne Familie, snakken tysk, engelsk, arabisk, svensk … die Welt trifft sich nördlich vom Polarkreis, in Nordnorwegen, in Bodø ... beim Frühstück!

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